Am 7.12.1997 gegen 4:30 Uhr begann Polizeimeister (PM) N. seine Frühschicht im Polizeirevier Dessau. Um 5:06 Uhr meldete ein Bewohner der Wolfgangstraße 15, dass eine hilflose Person vor dem Hochhaus liegt. Laut Einsatzblatt traf PM N. zusammen mit seinem Kollegen um 5:07 Uhr am Fundort ein. Es handelte sich um Jürgen Rose, der bei Temperaturen um den Gefrierpunkt nur in T-Shirt, Hose und Schuhen bekleidet in einer dunklen, feuchten Ecke vor dem Hauseingang lag. Er war offensichtlich schwer verletzt und bereits stark unterkühlt. PM N. hatte nach eigener Aussage Angst, dass die Person noch vor Ort verstirbt und meldete im Revier, dass sofort ein Notarzt benötigt werde.[1]
PM N. schaute sich um. Alle Fenster des Hochhauses waren geschlossen. Hinweise auf einen Verkehrsunfall gab es nicht. Als der Notarzt um 5:40 Uhr eintraf half er den schwer verletzten Jürgen Rose in den Krankenwagen zu bringen und ihm das T-Shirt auszuziehen. Wenige Tage später wurde er zu diesem Vorfall vernommen. Er erinnerte sich, dass dieses T-Shirt „komplett durchsuppt war, mit Schneematsch und einer weißen Flüssigkeit, die aussah wie Kalk und im Nachhinein auch bei mir auf der Hose gewesen ist. Diese Flüssigkeit war dann im trockenen Zustand jedoch wieder auszubürsten aus der Hose, was ich auch getan habe.«[2]
Jürgen Rose verstarb am 8.12.1997 im Dessauer Krankenhaus an den Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung. In den darauffolgenden drei Jahren versuchte die Kriminalpolizei der Polizeidirektion Dessau unter der Leitung von Kriminaloberkommissar (KOK) P. die Ursache seiner Verletzungen zu ermitteln. Dabei spielte auch eine weiße, pulvrige Substanz eine zentrale Rolle.
Doch die zugrunde liegende Logik im Vorgehen der Ermittler kann sich dem Recherche-Zentrum nach genauem Aktenstudium nicht erschließen: Die auffällig weiße Substanz am Asservat T-Shirt wurde nämlich gar nicht untersucht. Stattdessen standen die Profile der Schuhe von Jürgen Rose im Mittelpunkt der polizeilichen Ermittlungen. Diese führten allerdings zielstrebig an der Aufklärung des Tatgeschehens vorbei. Aber der Reihe nach…
Abschürfungen an den Schuhen
Am 9.12.1997 bekamen zwei Beamte des Revierkriminaldienstes in der Wolfgangstraße 25 den Auftrag, die Kleidung von Jürgen Rose, die im Krankenhaus in einem Patientenbeutel verpackt worden war, zu fotografieren und „augenscheinlich auf Unfallspuren“ zu untersuchen. Laut Aktenvermerk begannen sie dabei mit den Schuhen, von welchen sie insgesamt drei Fotos anfertigten: „Bild 1 von oben, Bild zwei mit Abschürfungen von den Außenseiten der Schuhe, Bild 3 Sohlenprofil der Schuhe“[3]
Sie notierten dazu: „Bei den Schuhen handelt es sich um knöchelhohe Wildlederschnürschuhe, Farbe Braun. An den Außenseiten der Schuhe (Bild 2) wurden Abschürfungen am Leder festgestellt, welche von grauer Farbe sind und für [den] normalen Gehvorgang mit Schuhen an diesen Stellen unüblich sind. Die Schuhe sind augenscheinlich noch ziemlich neu oder wenig getragen worden, was am wenigen Abrieb am Sohlen- bzw. Absatzbereich erkennbar ist, sowie der Abnutzung des Leders. Im Sohlenprofil sind keine größeren Schmutzanhaftungen sichtbar.“[4] Die Bilder der Schuhe liegen in der Akte allerdings nicht vor.
Daraufhin begutachteten die Kriminalbeamten den Zustand des T-Shirts und der Hose von Jürgen Rose und stellten fest, dass diese „verschmutzt“ waren. Die augenscheinlich auffällige weiße Substanz am T-Shirt, mit welcher auch der Zeuge PM N. in Berührung gekommen war, erwähnten sie nicht.
Hinsichtlich ihrer Feststellung der „unüblichen“ Abschürfungen an den Außenseiten der relativ neuwertigen Schuhe wäre zu erwarten gewesen, dass im Rahmen einer gewissenhaften kriminaltechnische Untersuchung auch Fragen zu deren Entstehung gestellt worden wären und ob sie etwas mit dem Tatgeschehen zu tun haben könnten. Doch seltsamerweise wurde im Laufe der gesamten Ermittlungen dieser auffälligen Besonderheit an den Schuhen gar nicht nachgegangen. Es wurde diesbezüglich weder ein Untersuchungsauftrag formuliert, noch wurde gedanklich irgendein Zusammenhang zu den Ereignissen in der Tatnacht hergestellt.
Das ist besonders deshalb verwunderlich, weil bereits am Vormittag des 7.12.1997 im Krankenhaus festgestellt worden war, dass die Misshandlungen von Jürgen Rose zu einer Querschnittslähmung geführt hatten. Nur wenige Tage später, am 12.12.1997 hatte die Rechtsmedizinerin Frau Dr. Romanowski den Fundort des schwer verletzten Jürgen Rose vor dem Hochhaus in der Wolfgangstraße 15 besichtigt. Sie hatte deutlich ausgeschlossen, dass der Fundort auch der Tatort gewesen ist.
Dies sind klare Indizien dafür, dass Jürgen Rose sehr wahrscheinlich von den Tätern zum Fundort gebracht wurde. Die beschriebenen Abschürfungen an seinen Schuhe könnten zum Beispiel davon zeugen, dass der 105 Kilogramm schwere Jürgen Rose von den Tätern unter anderem auf dem Boden geschliffen bzw. gezogen worden sein könnte.
Die Untersuchung der Schuhprofile
Warum die Ermittler der Polizeidirektion Dessau weder die weiße Substanz am T-Shirt untersucht, noch einen möglichen Zusammenhang zwischen den Abschürfungen an den Schuhen und dem Tatgeschehen hergestellt haben, ist fraglich. Umso absurder wirken die zahlreichen Fragestellungen und daraus resultierenden Gutachten, die sich ausschließlich auf die Schuhsohlenprofile von Jürgen Rose beziehen und die Ermittler ab dem 18.12.1997 scheinbar nicht mehr los lassen.
Entgegen der Ergebnisse der augenscheinlichen Begutachtung der Schuhe durch die beiden Beamten des Revierkriminaldienstes stellten die Kollegen der Polizeidirektion Dessau auch an den Schuhprofilsohlen von Jürgen Rose eine auffällige weiße Substanz fest. Diese wurde daraufhin im Labor des LKA in Magdeburg ausführlich untersucht.
Der zuständige Sachverständige beschrieb eine schwarze Kunststoffsohle, „die ein grobes und tiefes Leistenprofil in der Lauffläche und im Absatz aufweist. Beide Schuhsohlen sind an der umlaufenden Seitenkante, an den Flanken der Profilleisten sowie in der Tiefe des Profils sehr sauber. Der Oberfläche der Profilleisten war ein weißes, als staubfein anzusprechendes Material fast über die gesamte Sohle hinweg verteilt aufgelagert.“[5] Dieses Material analysierte er als ein Gemenge mit den Hauptbestandteilen Gips, Kalzit und Anhydrit.[6]
Infolge konzentrierten sich alle Ermittlungsaufträge auf die Frage, ob dieses weißliche Pulver aus dem Haus in der Wolfgangstraße 15 stammen könnte. Es erfolgten Abgleiche mit zahlreichen Materialien rund um die Flurfenster im 3. und 6. Stockwerk. Da dort zeitgleich Bauarbeiten stattgefunden hatten, wurden ebenfalls Abgleiche mit Proben der dort verwendetet Baumaterialien veranlasst.[7]
Im Ergebnis konnten bei all diesen Untersuchungen keine Materialübereinstimmungen mit der weißlichen Substanz an den Schuhprofilen festgestellt werden, wobei der Sachverständige eindringlich darauf hinwies, dass „die Diskussion in hohem Grade hypothetischen Charakter trägt.“[8]
Dies begründete er damit, dass „nicht definitiv bekannt“ sei, ob dieses weiße Material zum Beispiel auch beim Transport ins Krankenhaus oder bei der Asservierung an die Schuhprofile von Jürgen Rose gelangt ist. Weiterhin sei ebenfalls nicht bekannt, „ob Rose vor dem Positionieren in seiner Endlage am Auffindungsort und vor dem fraglichen Aufenthalt in dem betreffenden Wohnhaus Kontakt mit Baumaterialien (im weitesten Sinne) bzw. mit Baustaubablagerungen hatte (im eigenen Wohnobjekt, im eigenen PKW, während seines Aufenthalts in der Stadt, während seines Aufenthaltes im Polizeirevier, auf der fraglichen Wegstrecke bis zu dem Wohnhaus an seinem Fundort).“[9]
Eine irreführende Ermittlungsausrichtung
Dem Recherche-Zentrum erschließt sich die Sinnhaftigkeit dieser Aufträge vor allem deshalb nicht, weil Frau Dr. Romanowski einen Fenstersturz aus der Wolfgangstraße 15 sogar gutachterlich ausgeschlossen hatte. Von den Ermittlern der Polizeidirektion Dessau war der Speiseaal in einer Bildmappe als „Aufenthaltsort des Rose“[10] benannt worden. Bis zum 18.12.1997 wurde auch dem Verdacht auf „Übergriffe durch Polizeibeamte“[11] im Speisesaal intensiv nachgegangen. Daher ist nicht nachvollziehbar, warum die weiße Substanz an den Schuhsohlenprofilen nicht auch mit den auf dem Boden befindlichen Materialien im Polizeirevier bzw. in dem separaten Haus, in welchem sich der Speisesaal befindet, abgeglichen wurden.
Bei genauer Betrachtung der Bilder von dem separaten Gebäude, in dem sich der Speisesaal befindet, fällt auf, dass dort auf dem Boden weißlicher Staub zu sehen ist. An einem der Eingänge zum Speisesaal ist sogar zu erkennen, dass zeitnah Malerarbeiten stattgefunden haben müssen, da die Wände unfertig erscheinen.
Es stellt sich diesbezüglich die Frage, warum die weiße Substanz am T-Shirt von Jürgen Rose nicht mit der weißen Substanz an den Schuhen und den Materialien auf den Böden des Polizeireviers abgeglichen wurden. Warum bemühten sich die Ermittler von Anfang an ausschließlich darum, einen kriminalistischen Beweis dafür zu erbringen, dass Jürgen Rose im Hochhaus der Wolfgangstraße 15 war?
Für das Recherche-Zentrum steht allerdings fest, dass Jürgen Rose in dieser Nacht weder an diesem Haus vorbeigegangen noch in das Haus hineingegangen ist. Denn es muss eine weitere wichtige Erkenntnis berücksichtigt werden: Wäre Jürgen Rose tatsächlich um 3:35 Uhr aus dem Polizeirevier Dessau entlassen worden, so, wie die Polizeibeamten der Nachtschicht es behaupteten, dann wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in die Wohnung seiner Freunde in die Zerbster Straße 39 zurückgekehrt. Dort hatte er seit dem 25.11.1997 übernachtet und zu dieser Wohnung hatte er auch einen Schlüssel bei sich.[12]
Deshalb hatte Jürgen Rose schlichtweg keinen Grund an der Wolfgangstraße 15 zum Hauptbahnhof Dessau zu gehen. Diesen zentralen Aspekt haben die Ermittler der Polizeidirektion Dessau einfach ausgeblendet, als sie scheinbar krampfhaft versuchten über die weiße Substanz an den Schuhsohlenprofilen von Jürgen Rose eine Verbindung zu diesem Haus herzustellen.
Es ist vielmehr plausibel, dass die Täter dem Irrtum unterlagen, dass Jürgen Rose nach seiner Entlassung aus dem Revier zum Bahnhof gegangen wäre, um mit dem ersten Zug nach Wolfen zu fahren. Dies hatten sie aufgrund seiner Meldeadresse und seinem Nummernschild geschlussfolgert. Diese fälschliche Annahme spiegelt sich in mehreren Aussagen von Polizeibeamten der Nachtschicht wieder. Diese wollen ihm um 3:35 Uhr noch den Weg zum Bahnhof erklärt und sogar gesehen haben, wie er in diese Richtung abgebogen sei.[13]
Der Ablageort von Jürgen Rose entspricht somit einer falschen Wahl, die nur die Polizeibeamten der Nachtschicht in dieser Form hätten treffen können.
Quellen
- Quelle 1 | II/4 | Frag den Staat
- Quelle 2 | II/6 | Frag den Staat
- Quelle 3 | I/45 | Frag den Staat
- Quelle 4 | I/45 | Frag den Staat
- Quelle 5 | III/98 | Frag den Staat
- Quelle 6 | III/100 | Frag den Staat
- Quelle 7 | III/97 | Frag den Staat
- Quelle 8 | VI/21 | Frag den Staat
- Quelle 9 | VI/24 | Frag den Staat
- Quelle 10 | V/42a | Frag den Staat
- Quelle 11 | V/107 | Frag den Staat
- Quelle 12 | II/118 | Frag den Staat
- Quelle 13 | III/33 | Frag den Staat